15.10.2020 20:00
Zellen auf der Flucht
Viele Körperzellen müssen sich durch Gewebe bewegen und sich manchmal aus engen Stellen befreien können. Ein internationales Forscherteam unter Co-Leitung der ETH Zürich hat nun untersucht, wie Zellen Engpässe erkennen und ihnen entschlüpfen. Damit liefert das Team unter anderem neue Anhaltspunkte für die Verbesserung der Immuntherapie.
In unserem Körper liegen die Zellen in Haut, Knochen, Muskeln, Blutgefässen und Organen dicht nebeneinander – ganze 100 Billionen davon in einem menschlichen Körper. Durch diese eng gepackte Umgebung müssen sich manche Zellen hindurchschlängeln können – allen voran die Immunzellen, die durch Gewebe patrouillieren, um Krankheitserreger oder defekte Zellen aufzuspüren. Dabei helfen ihnen bestimmte Fähigkeiten. So weiss man seit kurzem, dass Immunzellen Engstellen in ihrer Nähe wahrnehmen und diesen ausweichen können. Doch unsere Körperzellen können nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sich selbst vermessen: Sie registrieren, sobald sie in einer Engstelle zu stark zusammengedrückt werden und aktivieren einen Fluchtmechanismus.
Diesen Mechanismus hat die Gruppe von Daniel Müller am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel nun zusammen mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern, unter anderem von der Université Paris Science & Lettres und des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases in Wien, genauer untersucht und im Fachmagazin Science [http://dx.doi.org/10.1126/science.aba2894] veröffentlicht. Die Ergebnisse könnten in Zukunft bei der Verbesserung der Immuntherapie bei Krebserkrankungen helfen.
Aus der Enge raus
Entscheidende Beobachtungen ermöglichte ein spezielles Rasterkraftmikroskop an der ETH. In dieses hatte der Biophysiker Cédric Cattin, damals Postdoktorand in Müllers Gruppe, eine selbst entwickelte Mikrofeder aus Glas eingebaut. Mit dieser feinen Messapparatur konnten die Forschenden einzelne Zellen sehr präzise und schrittweise zusammendrücken und im Mikroskop beobachten, wann und wie die Zellen auf die Deformierung reagierten. Das Gerät registrierte dabei nicht nur die Kraft, mit der die Mikrofeder auf eine Zelle drückte, sondern auch, ob die Zelle selbst einen Gegendruck erzeugte.
So stellte sich heraus, dass die Zellen zwar einigen Druck ohne Gegenwehr tolerieren. «Alle untersuchten Zellen liessen sich von ihrer normalen Kugelform mit einem Durchmesser von etwa 25 Mikrometer auf eine flachere Form mit einer Höhe von 10 Mikrometer zusammendrücken», sagt ETH-Professor Daniel Müller. Wurden die Zellen aber weiter eingeschränkt, reagierten sie: Spätestens, wenn sie bis auf fünf Mikrometer flachgedrückt waren, erzeugten sie einen Gegendruck und setzten sich gleichzeitig in Bewegung, um der Engstelle zu entschlüpfen.
Der Zellkern als Massstab
In weiteren Untersuchungen stellte das Team fest, dass der Zellkern für diese Fluchtreaktion verantwortlich ist – genauer, dessen Hülle. Diese enthält im Normalfall Falten, ähnlich wie die Haut über unseren Fingergelenken. Sobald aber eine Zelle so weit zusammengedrückt wird, dass sich auch der Zellkern deformiert, entfaltet und dehnt sich die Kernhülle. «Diese Dehnung der Hülle gibt das Startzeichen für die Fluchtreaktion», erklärt Müller. Aus der gestreckten Hülle entweichen Calcium-Ionen, die ein bestimmtes Enzym aktivieren, welches wiederum eine Reaktion in Gang setzt, die das Actomyosin-System der Zelle einschaltet. Dieses ist für die Bewegungen der Zelle zuständig und löst im Gerüst der Zellen Kontraktionen aus. Dadurch bauen diese einen Gegendruck auf und entweichen.
«Der Zellkern wirkt also wie ein Massstab, der bestimmt, ab wann es für die Zelle zu eng wird», erklärt Müller. Besonders gut sichtbar wird dieser Mechanismus unter dem Rasterkraftmikroskop, wenn die beiden Proteine Actin und Myosin mit Fluoreszenzfarbstoffen versehen sind. Sobald die Hülle des Zellkerns gedehnt wird, bilden sich explosionsartig ganze Blasen dieser beiden Proteine in der Zelle.
Ansätze für eine bessere Immuntherapie
Ihre Ergebnisse aus den Experimenten mit der Mikrofeder bestätigten die Forschenden daraufhin in weiteren Versuchen. Unter anderem schickten sie Zellen in mikrofeinen Glaskapillaren durch Engstellen oder beobachteten deren Bewegungen in unterschiedlich dichten Zellkulturen. Auch hier entwichen die Zellen aus Engpässen zwischen fünf und zehn Mikrometern durch eine unvermittelte Aktivierung des Actomyosin-Systems. Dieses Verhalten beobachteten die Forschenden zudem bei allen der getesteten Zelltypen, darunter etwa Tumorzellen oder Immunzellen aus Mäusen. «Wir folgern daraus, dass wohl die meisten Zelltypen diese Fähigkeit besitzen», sagt Müller.
Die neuen Erkenntnisse liefern Hinweise für verschiedene Anwendungen, etwa für die Forschung an künstlichen Geweben. Um solche Gewebe – künstliche Haut oder Organe – in die gewünschte Form zu bringen, werden Körperzellen auf einem synthetischen Gerüst gezüchtet, Matrix genannt. Die neuen Beobachtungen zur Bewegung von Zellen dürften beim Design solcher Matrices helfen. Auch für die Immuntherapie, die seit einigen Jahren als grosse Hoffnung in der Krebsmedizin gilt, könnten die Ergebnisse nützlich sein. Dabei werden körpereigene Immunzellen dazu angeregt, Tumorzellen zielgerichteter anzugreifen. Allerdings ist es für die Immunzellen manchmal schwierig, überhaupt zu den Krebszellen durchzudringen, da ein Tumor dichter wuchert als gesundes Gewebe. Um dies zu verbessern, sagt Müller, könnten Forschende künftig beim aufgedeckten Fluchtmechanismus ansetzen.
Originalpublikation:
Lomakin AJ, Cattin CJ, Cuvelier D, Alraies Z, Molina M, Nader GPF, Srivastava N, Saez PJ, Garcia-Arcos JM, Zhitnyak IY, Bhargava A, Driscoll MK, Welf ES, Fiolka R, Petrie RJ, De Silva NS, González-Granado JM, Manel N, Lennon-Duménil AM, Müller DJ, Piel M: The nucleus acts as a ruler tailoring cell responses to spatial constraints. Science, 15. Oktober 2020, doi: 10.1126/science.aba2894 [http://dx.doi.org/10.1126/science.aba2894]
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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