Am 7. Februar 2020 wurde ein weibliches Mitglied einer neuen christlichen Bewegung, genannt Shincheonji, aus Daegu in der Republik Korea nach einem Autounfall in ein Krankenhaus eingeliefert. Während des Krankenhausaufenthalts entwickelte sie Symptome, die einer gewöhnlichen Grippe ähnelten. Sie besteht darauf, dass niemand weder das Coronavirus in Betracht gezogen hat, noch einen Test vorgeschlagen habe. Erst am 18. Februar, nachdem ihre Symptome sich verschlimmert hatten, wurde bei ihr eine Lungenentzündung diagnostiziert und anschließend auf COVID-19 getestet, was positiv ausfiel. Sie wurde als Patient 31 verzeichnet und hatte vor der Diagnose einige Tätigkeiten von Shincheonji ausgeführt. Als Folge davon wurde sie zum Ausgangspunkt von hunderten Neuinfektionen, wovon die meisten andere Shincheonji-Mitglieder betrafen. Einige koreanische Medien behaupteten, dass sie einen Test verweigert hätte, wofür es keine Beweise gibt, und Patient 31 verneint beständig, dass dies der Fall war. Die Leiter von Shincheonji in Daegu erfuhren von der Infektion von Patient 31 am 18. Februar um 9 Uhr. Bereits am selben Tag schloss Shincheonji all seine Center in Daegu und empfahl allen Mitgliedern, private Versammlungen und Treffen zu vermeiden und sich in Selbstisolation zu begeben. Später am Tag wurde die Anweisung gegeben, alle Kirchen und Missionscenter in der ganzen Republik Korea zu schließen und Gottesdienste fanden nur noch über das Internet statt. Shincheonji setze ebenfalls alle Gottesdienste und Veranstaltungen im Ausland vom 22. Februar beginnend aus, und jede Art von Treffen, Aktivitäten oder Versammlungen in allen Ländern am 26. Februar. Am 19. Februar statuierte Südkoreas Präsident Moon Jae-In, dass die Regierung eine vollständige Liste von allen Shincheonji-Mitgliedern benötige. Nationale Listen wurden am 25. Februar, sechs Tage nach der Aufforderung, eingereicht. In der Republik Korea existiert eine starke Opposition gegen Shincheonji, welche von Fundamentalisten und konservativen christlichen Kirchen geschürt wird, welche der Bewegung „Kätzerei“ und „Schafestehlen“ vorwerfen und bereits oft gewalttätig gegen sie vorgegangen sind. Als Shincheonji-Mitglied identifiziert zu werden, kann dazu führen, verhöhnt und geschlagen zu werden oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Aus diesem Grund ist es nicht überraschend, dass einzelne Mitglieder davon abgeneigt waren, ihre Shincheonji-Mitgliedschaft ihren Arbeitskollegen oder Arbeitgebern zu offenbaren. Die Bewegung wies jedoch alle Mitglieder an, mit den Behörden zu kooperieren und COVID-19-Tests einzureichen. Die Regierung beanstandete, dass die Liste vom 25. Februar weniger Mitglieder beinhaltete als die, die in Shincheonjis offiziellen Statistiken erwähnt werden. Diese beinhalten jedoch auch ausländische Mitglieder, jedoch verstand es Shincheonji so, dass die Regierung nur die Daten von Mitgliedern aus der Republik Korea benötige. Warum genau koreanische Behörden die Namen von Shincheonji-Mitgliedern aus Europa und Nordamerika zu wissen braucht ist unklar, jedoch als sie nach der Liste von ausländischen Mitgliedern fragten, erhielten sie diese ebenfalls. Das Hauptproblem betraf „Schüler“, wie diejenigen, die nicht teil der Kirche sind, aber Kurse und andere Aktivitäten des Missionscenters besuchen und eines Tages der Kirche beitreten (oder auch nicht), von Shincheonji bezeichnet werden. Shincheonji verzeichnet 54.176 solcher „Schüler“ in der Republik Korea und 10.951 im Ausland. Über diese bestehen ernste Bedenken, welche die Privatsphäre betreffen. Ungeachtet der Versprechungen der Behörden wurden einige Identitäten der Mitglieder offengelegt. Dies allein ist bereits schlimm genug, jedoch ist sich jemand, der in der Republik Korea ein Mitglied von Shincheonji wird, über die Risiken, welche damit verbunden sind, bewusst. Gleiches gilt jedoch nicht für „Schüler“. Tatsächlich könnten sie die Risiken abwägen und sich dafür entscheiden, nicht beizutreten – und natürlich sind die Risiken, nun nachdem die Anti-Shincheonji-Feindschaft ihren Gipfel mit der Virus-Krise erreicht hat, höher. Shincheonji’s Zögern bezüglich der Bekanntmachung von Namen der „Schüler“ war also verständlich. Es ist dementsprechend nachvollziehbar, dass Gesundheitsbehörden annahmen, dass die Personen, welche Shincheonji-Center besuchten, gleichermaßen gefährdet waren, infiziert zu werden, seien sie Mitglieder oder „Schüler“. Am 27. Februar forderte das KCDC eine Liste von Namen der „Schüler“ an und verpflichtete sich, die rechtliche Verantwortung für mögliche Datenschutzverletzungen und damit verbundene Konsequenzen zu übernehmen. Die Liste wurde noch am selben Tag ausgehändigt. All diese Arbeiten umfassten, der Regierung Listen mit rund 300.000 Namen und Adressen zu übermitteln. Dass diese Ausführung völlig fehlerfrei gewesen sein könnte, war jenseits menschlicher Möglichkeiten. Die lokalen Behörden durchsuchten die Räumlichkeiten von Shincheonji mit großer Begeisterung und behaupteten, sie suchten nach den „echten“ Listen. Als die bei den Durchsuchungen beschlagnahmten Listen mit denen verglichen wurden, die sie von Shincheonji erhalten hatten, stellten sie jedoch nur geringfügige Unstimmigkeiten fest und gaben öffentlich zu, dass die Bewegung nicht versucht hatte, sie zu täuschen. Ähnliche Probleme betrafen die Forderung der Regierung nach einer vollständigen Liste von Immobilien, die Shincheonji gehören oder von Shincheonji gemietet werden. Shincheonji stellte zunächst eine Liste von 1.100 Liegenschaften zur Verfügung, die die Behörden als unvollständig beanstandeten. Sie kritisierten ebenfalls, dass einige Adressen falsch seien, und tatsächlich fanden weitere Untersuchungen seitens Shincheonji heraus, dass 23 der aufgelisteten Immobilien geschlossen worden waren. Später berichtete Shincheonji, dass die Gesamtzahl der im Besitz befindlichen oder gemieteten Immobilien 1.903 betrug, einschließlich der 23 stillgelegten. Diese Zahl umfasste jedoch Grundstücke, Lagerhäuser sowie Privathäuser und Geschäfte, die von Shincheonji-Mitgliedern nicht für Versammlungen oder Treffen genutzt wurden. Am 2. März 2020 hielt der Leiter von Shincheonji, der Vorsitzende Lee Man-hee, eine Pressekonferenz ab, in der er sich für die Fehler entschuldigte, die Shincheonji möglicherweise begangen habe. Fehler sollten jedoch nicht mit Verbrechen verwechselt werden. Shincheonji hätte einige Anfragen der Behörden schneller und besser beantworten können, aber es operierte unter extremem Druck und unter sehr schwierigen Umständen. Die einzelnen Mitglieder von Shincheonji betreffend, die ihre Zugehörigkeit zu dieser Bewegung erst dann freiwillig offenlegten, als die Behörden sie über die Liste ermittelten, versuchten sie es bis zum bitteren Ende zu verbergen, obwohl die Anweisung der Bewegung zur Zusammenarbeit aufrief. So sollte, bevor ihr Verhalten verurteilt wird, in Betracht gezogen werden, dass sie ihren Arbeitsplatz riskierten. Und vielleicht ihr Leben. In Ulsan starb am 26. Februar ein weibliches Mitglied von Shincheonji, nachdem es aus einem Fenster im 7. Stock des Gebäudes, in dem es lebte, gefallen war. Der Vorfall ereignete sich, als ihr Ehemann, der eine Vorgeschichte häuslicher Gewalt aufweist, sie angriff und versuchte, sie zum Verlassen von Shincheonji zu zwingen. Die Polizei untersucht noch immer ein mögliches Verbrechen. Dieser tödliche Vorfall ist nur die Spitze des Eisbergs. Nach dem Fall von Patient 31 gab es in der Republik Korea mehr als 6.000 Fälle von Diskriminierung von Shincheonji-Mitgliedern, und die Zahl steigt weiter. Als Mitglied von Shincheonji identifiziert zu werden, führt zu dem ernsthaften Risiko, belästigt, schikaniert, geschlagen oder von seinem Arbeitsplatz entlassen zu werden. Darüber hinaus gingen lokale Politiker und feindselige Medien (welche sich gelegentlich auf Falschinformationen verärgerter ehemaliger Mitglieder der Bewegung stützten) sogar noch weiter und drohten mit rechtlichen Schritten, die darauf abzielten, Shincheonji und den damit verbundenen (aber unabhängigen) Wohltätigkeits- und Kulturorganisationen den Rechtsstatus zu entziehen, seine Orte und Gottesdienste zu schließen und das zu erreichen, was Opponenten in Jahren der Diskriminierung und Gewalt nicht erreicht haben, nämlich das Wachstum von Shincheonji in der Republik Korea zu stoppen. In einem im März 2020 veröffentlichten Dokument stellte die United States of America (U.S.) Commission on International Religious Freedom ein parteiübergreifendes Gremium, dessen Mitglieder vom Präsidenten der Vereinigten Staaten und den Kongressführern beider politischer Parteien ernannt werden, fest: „Shincheonji wurde von der südkoreanischen Regierung und Gesellschaft schikaniert. Obwohl einige Maßnahmen der Regierung anscheinend von legitimen Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit angetrieben wurden, schienen andere die Rolle der Kirche bei dem Ausbruch zu überspitzen. Die Regierung von Seoul schloss die Shincheonji-Kirchen in der Hauptstadt, und einige wichtige protestantische Gruppen haben die Kirche beschuldigt, die Krankheit absichtlich zu verbreiten. Die örtliche Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Lee Man-hee wegen Mordes durch „vorsätzlicher Fahrlässigkeit». Dem USCIRF liegen Berichte über Personen vor, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Kirche bei der Arbeit diskriminiert und misshandelt wurden. In der Zwischenzeit hat eine Petition zum Verbot der Kirche mehr als 1,2 Millionen Unterschriften erhalten. Trotzdem hat der stellvertretende Gesundheitsminister Kim Kang-lip öffentlich erklärt, dass die Shincheonji-Kirche mit den Behörden zusammengearbeitet hat» (U.S. Commission on International Religious Freedom 2020b, 3). Am 6. Februar gab dieselbe USCIRF eine Erklärung heraus, in der es hieß: „Der USCIRF ist besorgt über Berichte, wonach Mitglieder der Shincheonji-Kirche für die Verbreitung des #coronavirus verantwortlich gemacht werden. Wir fordern die südkoreanischen Behörden nachdrücklich auf, es zu verurteilen, anderen Menschen die Schuld zuzuschieben und die Religionsfreiheit zu respektieren, da sie auf den Ausbruch reagiert» (U.S. Commission on International Religious Freedom 2020a). Wir schließen uns dieser Schlussfolgerung und diesem Appell von ganzem Herzen an. Der Virus kann keine Entschuldigung dafür sein, die Menschenrechte und die Religionsfreiheit von Hunderttausenden von Gläubigen zu verletzen. Intoleranz, Gewalt und Diskriminierung gegen Shincheonji sollte ein Ende haben. Quellen Introvigne, Massimo, Willy Fautré, Rosita Šorytė, Alessandro Amicarelli, und Marco Respinti. 2020. Shincheonji and Coronavirus in South Korea: Sorting Fact from Fiction. A White Paper. Brüssel: Human Rights Without Frontiers, and Torino: CESNUR. Letzter Zugriff: 4. April 2020. https://bit.ly/2W0jqI9. U.S. Commission on International Religious Freedom. 2020a. Tweet, 5. März. https://bit.ly/2SfPxCA. U.S. Commission on International Religious Freedom. 2020b. “The Global Response to the Coronavirus: Impact on Religious Practice and Religious Freedom.” https://bit.ly/2Ye9zB2.
Mitglieder von Shincheonji als Sündenböcke genutzt für die Corona Fälle in Südkorea
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